„Es gibt nichts, was mich mehr prägen könnte als mein Glaube“
Zwei Ketten trägt Mikaelle Assani um ihren Hals, die das symbolisieren, für was die 22 Jahre alte Weitspringerin steht: Die Olympischen Ringe für ihre Hingabe zum Leistungssport - und das christliche Kreuz für ihren Glauben. Sporttreiben ist aktuell nicht möglich, die in Pforzheim geborene Athletin des SCL Heel Baden-Baden, deren Eltern aus Kamerun (Mutter) und Nigeria stammen, laboriert an den Folgen eines bei der Hallen-EM im März erlittenen doppelten Sehnenrisses im linken Oberschenkel. Aber ihr Glaube hilft ihr dabei, die langwierige Regenerationszeit guten Mutes zu überstehen. Darüber wollen wir mit ihr sprechen.
DOSB: Mikaelle, bevor wir in unser Hauptthema einsteigen: Was macht die Genesung, wie geht es dir aktuell?
Mikaelle Assani: Gesundheitlich geht es bergauf, ich muss nicht mehr an Krücken gehen. Die größte Herausforderung ist aktuell, dass ich nicht zu viel mache und dadurch meine Grenzen überschreite. Bei so einer Verletzung darf man nichts überstürzen. Aber ich werde sehr gut betreut und bin guter Dinge, dass die Heilung weiterhin nach Plan verläuft. Die Saison ist allerdings höchstwahrscheinlich für mich beendet.
Erinnerst du dich daran, wann und wie du erstmals mit dem Thema Religion in Berührung gekommen bist?
Es gab nie einen Teil meines Lebens, in dem der Glaube keine Rolle gespielt hat. Er hat mich auf meinem Weg immer begleitet. Meine ganze Familie ist sehr religiös, es wurde mir also in die Wiege gelegt. Die freichristliche Gemeinde in Karlsruhe, in der wir zu dem Zeitpunkt, an dem meine aktive Erinnerung einsetzt, immer waren, gibt es heute nicht mehr. Ich erinnere mich aber sehr intensiv daran, wie dort Gemeinschaft gelebt wurde. Das war schon damals das Wichtigste für mich.
Wann und wie hast du selbst gespürt, dass der Glaube ein wichtiger Teil deines Lebens sein soll?
Diese Bewusstheit habe ich schon als Kind gehabt. Natürlich habe ich mich in meinem Glauben stetig entwickelt und nach und nach immer tiefer gespürt, wie wichtig er mir ist. Aber schon in der Grundschule habe ich ein inniges Vertrauen in den Glauben entwickelt. Meine Freunde waren zum Großteil in der gleichen Gemeinde, der Glaube war entsprechend fast immer ein Thema.
Wie habt ihr damals euren Glauben praktiziert, und wie ist das heute, da du seit einem Jahr nicht mehr zu Hause wohnst?
Wir waren damals fast jeden Sonntag in der Kirche, und wenn es mal nicht möglich war, haben wir im Kreis der Familie gemeinsame Bibelstunden abgehalten. Gebetet wurde mehrmals täglich: Tischgebete, aber auch Fürbitten oder Lobpreisungen zu anderen Gelegenheiten. Gebete waren schon immer ein selbstverständlicher Teil meiner Routine, so wie Zähneputzen. Wir führen eine Beziehung mit Gott, und diese Beziehung muss gepflegt werden. Das ist heute nicht anders, auch wenn sich die Beziehung als junger erwachsener Mensch verändert. Aber ein wichtiger Bestandteil meines Alltags bleibt der Glaube immer. Ich lese die Bibel und bete, wenn mein Herz sich danach sehnt.
Welche Rolle spielt die Kirche als Institution für deinen Glauben?
Sie ist ein Baustein, um ihn zu verstärken. Aber sie ist nicht der Mittelpunkt, sondern ein Ort der Gemeinschaft, an dem ich meinen Glauben ausleben kann. Die Kirche und deren Mitglieder sind ein weiterer Weg, mich in meinem Glauben zu stärken und zu lenken.
Gibt es einen kirchlichen Feiertag, der dir besonders wichtig ist?
Weihnachten ist ein Fest, für das ich sehr dankbar bin, weil es die Gemeinschaft extrem fördert. Aber die herzlichste Verbindung zum Glauben spüre ich an Ostern. Die Geschichte der Auferstehung berührt mich sehr, ich bin in dieser Zeit wirklich ganz besonders emotional.
Wie hilft dein Glaube dir ganz konkret, im Sport wie auch im Alltag?
Es tut mir einfach sehr gut, an Wettkampftagen zu beten. Vor einem Wettkampf lese ich gern in der Bibel, um mich auf mich und die Beziehung zu Gott zu konzentrieren. Das ist wie die berühmte Ruhe vor dem Sturm, ich setze damit den Ton für den Wettkampf. Währenddessen suche ich ebenfalls die Verbindung zu Gott, durch Fürbitten, aber auch durch Lobpreisung mit Gesang. Und nach dem Wettkampf danke ich für alles, was er mir ermöglicht hat. Im Alltag ist das Erste, was ich tue, mich am Morgen dafür zu bedanken, dass ich aufgewacht bin, denn auch das ist nicht selbstverständlich. Vor dem Schlafengehen danke ich für den Tag.
Betest du lieber allein oder in Gemeinschaft?
Beides gefällt mir. Ich bin sehr dankbar, dass Yemisi Ogunleye (Kugelstoß-Olympiasiegerin von Paris, d. Red.) ihren Glauben ebenfalls sehr offen lebt. Mit ihr bete ich sehr oft gemeinsam oder lese Bibelverse, besonders während Meisterschaften und Trainingslagern, und das tut mir sehr gut.
Welche Rolle spielen Seelsorger außerhalb deiner kirchlichen Gemeinschaft, die zum Beispiel bei großen internationalen Sportveranstaltungen vom DOSB entsandt werden?
Ich finde das eine coole Sache, dass es so etwas gibt. Aber ich gestehe, dass ich davon in Paris erst sehr spät erfahren habe. Ich glaube, dass es vielen so geht, weil der Fokus so klar auf den Sport gerichtet ist und die, die gläubig sind, ihre eigenen Rituale haben. Deshalb kann ich persönlich nicht viel zu dieser Frage sagen, ich schließe aber keinesfalls aus, diese Dienste zukünftig in Anspruch zu nehmen.
Welche Erfahrungen hast du mit Sportler*innen anderer Konfessionen im Hinblick auf den Umgang mit Religion gemacht?
Noch nicht viele. Wenn es sich mal ergibt, redet man darüber, und natürlich fällt mir auf, dass viele aus ihrem Glauben Kraft schöpfen. Aber mit anderen Konfessionen hatte ich im Sport noch nicht viele Berührungspunkte. Viel häufiger kommt es vor, dass ich mit Menschen rede, die gar nicht glauben. Viele von ihnen können nur schwer verstehen, welchen Wert und Einfluss der Glaube für mich hat, aber man findet zumeist trotzdem zueinander, kann gegenseitiges Verständnis erlernen und einüben. Ich hatte zum Beispiel schon einige interessante Gespräche mit Ärzten, die aus der Wissenschaft kommen und sich mit dem Glauben sehr schwer tun. Als ich mich verletzt habe, schrieb mir einer dieser Ärzte, dass er nun viel besser nachvollziehen könne, wie mir mein Glaube in so einer Krise helfen kann.
„Sport und Kirche sind die wichtigsten Antidepressiva, die wir haben“
DOSB: Frau Lüke, Herr Latzel, worin sehen Sie die wichtigsten gesellschaftlichen Werte, die Kirche und Sport heute verkörpern?
Katja Lüke: Kirche und Sport stehen für etwas sehr Fundamentales: für den Menschen. Für seine Würde, seine Rechte, seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Wir im Sport erleben täglich, was Gemeinschaft bedeutet, wenn Menschen verschiedenster Herkunft zusammen auf dem Platz stehen, sich im Wettkampf begegnen oder sich im Ehrenamt engagieren. Für mich sind die wichtigsten Werte Fair Play und Gerechtigkeit. Der Sport ist eine Bewegung für Zusammenhalt, genauso wie die Kirche. Was uns verbindet, ist die klare Ausrichtung auf Gemeinwohlorientierung, Teilhabe und Verantwortung füreinander. Das sind keine Floskeln - das ist das Rückgrat einer offenen, demokratischen Gesellschaft.
Thorsten Latzel: Im Sport lernt man neben Gemeinschaft auch einen regelbasierten Wettkampf und die Freude am zweckfreien Spiel. Das sind Dinge, die auch für uns als Kirche wichtig sind. Als Glaubensgemeinschaft zeichnet uns das Vertrauen auf Gott und die Liebe zum Mitmenschen aus, sie ist prägend, selbst gegenüber dem Gegner. Mit anderen zu erleben, dass ich von Gott tiefengeliebt bin und dass es im Leben zugleich um mehr geht als nur um mich selbst, darum geht es in der Kirche. Und davon können Menschen auch etwas im Sport erfahren. Hier wie dort erleben Menschen, die neu dazukommen, Lebensfreude, Gemeinschaft und Integration. Es zählt der Mensch einfach als Mensch. Und wir lernen, warum es gut und wichtig ist, sich einander zuzuwenden.
Wie hat sich das Ansehen der beiden Institutionen im Laufe dieses Jahrhunderts verändert und worin liegt diese Veränderung begründet?
Latzel: Im Sport sehe ich verschiedene Veränderungen. Der Spitzensport erlebt eine weiter zunehmende Kommerzialisierung, im Breitensport sehen wir eine hohe Pluralisierung von Sportarten, Vereinssport spielt weiter eine wichtige Rolle, zugleich wird er zum Teil von kommerziellen Anbietern überlagert, wo soziale Werte keine so große Rolle mehr spielen. Auch in den Kirchen erleben wir tiefgreifende Veränderungen. Ein traditionelle Kirchenbindung geht zurück, zugleich gibt es ein wachsendes Bedürfnis nach Sinnstiftung. Viele Menschen nehmen die Welt als „verrückt“ wahr und suchen Orientierung für ihr eigenes Leben. Es ist längst nicht mehr selbstverständlich, dass in den Familien der Glaube weitergegeben wird. Deshalb stehen wir immer wieder aufs Neue vor der Aufgabe, jüngeren Generationen Hoffnung zu vermitteln und sie für ein Miteinander zu begeistern. Wir müssen jeden Jahrgang neu gewinnen.
Lüke: Die Menschen schauen heute genauer hin - und das ist gut so. Gesellschaftliche Akteure wie Kirche und Sport stehen zu Recht unter Beobachtung: Wie ernst nehmen wir unsere Werte? Wie glaubwürdig leben wir sie? Es geht nicht mehr nur darum, dass Siege errungen werden, sondern wie. Der Sport wird nicht mehr nur an Leistung gemessen. Wir spüren, dass unsere Stimme Gewicht hat – gerade wenn es um Menschenrechte, Vielfalt oder Integration geht. Gleichzeitig wissen wir: Vertrauen entsteht durch Haltung. Und durch das, was wir tun, nicht nur sagen. In dieser Hinsicht hat der Sport in den vergangenen Jahren stark an Profil und Stimme gewonnen – nicht trotz der Herausforderungen, sondern durch sie.
Latzel: Diese höhere Sensibilisierung ist wichtig. In beiden Bereichen kommen sich Menschen sehr nah. Im Sport körperlich, in der Kirche etwa in der Seelsorge. Umso wichtiger ist die konsequente Achtung von Grenzen. Wir müssen den Blick schärfen, zum Beispiel bei Fragen zu Diversität, zu Schutzkonzepten und beim Bewusstsein für Grenzverletzungen. Da verändern sich im Sport Haltungen, wie wir im vergangenen Jahr gesehen haben, als der spanische Fußball-Präsident Luis Rubiales eine Spielerin nach dem WM-Triumph auf den Mund küsste und dafür zu Recht zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Auch in der Kirche haben wir nicht mehr das Amtsverständnis von früher, wir schauen bewusst hin, wo Verletzungen oder Grenzüberschreitungen passieren. Unser Auftrag ist, ein möglichst sicherer Ort für alle Menschen zu sein und Fälle von Machtmissbrauch konsequent aufzuarbeiten. Machtmissbrauch hat in der Kirche wie im Sport nichts zu suchen. Es ist notwendig, dass wir uns dem bewusst stellen und die Schuld- und Schattenseiten unserer Institutionen aufarbeiten.
Lüke: Auch wir sind uns dieser Verantwortung sehr bewusst. Machtmissbrauch darf es nicht geben, deswegen entwickeln wir Konzepte wie den Safe Sport Code, den der DOSB als erste zivilgesellschaftliche Organisation in Deutschland im Dezember vergangenen Jahres auf seiner Mitgliederversammlung implementiert hat. Gemeinsam mit unseren Mitgliedsorganisationen arbeiten DOSB und dsj daran, Schutzmaßnahmen im Sport weiter zu stärken und ein sicheres Umfeld für alle Beteiligten zu schaffen. Der Safe Sport Code wird vom DOSB als sportartübergreifendes Musterregelwerk für alle Verbände und Vereine im organisierten Sport zur Verfügung gestellt, damit diese ihn für sich nutzen können. Die Einführung des Codes sendet ein Zeichen an potenzielle Täter*innen und Betroffene, dass Gewalt im Sport keinen Platz hat und bei uns nicht toleriert wird.
Event-Inklusionsmanager*in im Sport: Louis Kleemeyer
Seit 2023 ist Louis Kleemeyer beim Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverband (adh) als Event-Inklusionsmanager (EVI) angestellt und begleitet die Ausrichtung der Rhine-Ruhr 2025 FISU World University Games, die Weltspiele der Studierenden. Neben 18 olympischen Disziplinen wird dort 2025 mit 3x3 Rollstuhlbasketball erstmals eine Para Sportart ins Wettkampfprogramm aufgenommen. Das allein macht aber keine inklusive Veranstaltung aus. Das Inklusionsteam der Rhine Ruhr 2025 zieht im Hintergrund die Fäden, um die Teilhabe und das Eventerlebnis für möglichst alle zu schaffen.
Generell, so Kleemeyers Eindruck, könne der Hochschulsport dennoch offener werden für Menschen mit Behinderungen: Seine Hoffnung sei, dass die Ideen, die kurzfristig für die FISU World University Games entstehen, langfristig Anwendung im adh finden.
Sein Know-how wolle er auch danach bei weiteren großen Sportveranstaltungen einbringen. Schon jetzt liebäugelt er mit den Special Olympics World Winter Games, die 2029 in der Schweiz stattfinden.
